“Wie der Wind sich hebt”: Miyazakis poetischer Abschiedsgruß an die Träume und die Vergänglichkeit
Hayao Miyazakis Wie der Wind sich hebt (Kaze Tachinu, 2013) ist ein Film, der sich anfühlt wie der letzte, zarte Pinselstrich eines großen Künstlers. Es ist nicht nur eine Biografie, sondern eine Meditation über das Leben, die Liebe, die Kunst und die Komplexität menschlicher Träume – ein Werk, das sich deutlich an ein erwachsenes Publikum richtet und thematisch wie atmosphärisch deutlich reifer ist als seine bisherigen Filme. Während Mein Nachbar Totoro (1988) oder Ponyo (2008) die kindliche Fantasie zelebrieren, ist Wie der Wind sich hebt eine introspektive und bittersüße Erzählung, die Fragen stellt, auf die es keine einfachen Antworten gibt.
Es ist ein Film, der nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern auch tief bewegt – ein Film, der dich mit dem Gefühl zurücklässt, Zeuge eines letzten großen Kapitels zu sein.
Eine Liebeserklärung an die Träume
Die Handlung von Wie der Wind sich hebt basiert lose auf dem Leben von Jiro Horikoshi, dem Designer des berühmten Mitsubishi A5M und später des Mitsubishi A6M “Zero”, eines Kampfflugzeugs, das im Zweiten Weltkrieg von Japan eingesetzt wurde. Doch Miyazaki erzählt nicht die Geschichte eines Ingenieurs im historischen Sinne, sondern vielmehr die eines Träumers.
Jiro (im Original gesprochen von Hideaki Anno, dem Schöpfer von Neon Genesis Evangelion) ist ein junger Mann, der schon früh von der Luftfahrt fasziniert ist. Inspiriert von dem italienischen Flugzeugbauer Giovanni Battista Caproni (Nomura Mansai), widmet er sein Leben der Konstruktion von Flugzeugen – nicht als Werkzeuge des Krieges, sondern als Kunstwerke, die den Himmel erobern.
Die zentrale Spannung des Films entsteht aus dem Konflikt zwischen Jiros Idealismus und der Realität, dass seine Schöpfungen letztlich im Krieg eingesetzt werden. Miyazaki zwingt uns, die Ambivalenz der Träume zu betrachten: Können wir Schönheit schaffen, ohne dass sie für Zerstörung missbraucht wird?
Eine erwachsene Erzählweise
Anders als Miyazakis frühere Filme richtet sich Wie der Wind sich hebt fast ausschließlich an ein erwachsenes Publikum. Es gibt keine fantastischen Wesen, keine Magie und keine Kinderprotagonisten. Stattdessen bietet der Film eine introspektive und zutiefst menschliche Erzählung, die sich mit Themen wie Liebe, Verlust und moralischer Verantwortung auseinandersetzt.
Jiros Beziehung zu Nahoko (Miori Takimoto), einer jungen Frau, die an Tuberkulose leidet, ist das emotionale Herz des Films. Ihre Liebesgeschichte wird mit einer Zartheit und Melancholie erzählt, die an Klassiker wie Casablanca (1942) oder Die Brücken am Fluss (1995) erinnert. Besonders berührend ist eine Szene, in der Nahoko trotz ihrer Krankheit beschließt, Jiro zu unterstützen und ihm die Zeit zu schenken, die ihnen bleibt. Hier wird deutlich: Wie der Wind sich hebt ist nicht nur eine Geschichte über Träume, sondern auch über die Opfer, die wir für diese Träume bringen – und über die Menschen, die uns auf unserem Weg begleiten.
Visuelle Meisterklasse
Es wäre ein Studio-Ghibli-Film, wenn nicht jede Einstellung mit Liebe zum Detail und einem unnachahmlichen visuellen Stil gestaltet wäre. Doch die Animationen in Wie der Wind sich hebt sind zurückhaltender und realistischer als in Miyazakis anderen Werken. Die Landschaften – von den hügeligen, grünen Feldern Japans bis hin zu den modernistischen Fabriken und überfüllten Städten – erinnern an impressionistische Gemälde, während die Flugzeugdesigns mit einer fast obsessiven Präzision gezeichnet sind.
Besonders eindrucksvoll ist eine Sequenz, in der Jiro einen Testflug seines ersten Designs unternimmt. Der Himmel, das Licht und die Bewegung der Flugzeuge sind so perfekt eingefangen, dass man beinahe den Wind spüren kann, der durch die Flügel streift. Es ist ein Moment purer, audiovisueller Poesie, der zeigt, warum Miyazaki ein Meister seines Fachs ist.
Der Wind, der die Geschichte trägt
Der Titel des Films ist ein Zitat aus einem Gedicht von Paul Valéry: “Der Wind erhebt sich! Wir müssen versuchen, zu leben.” Diese Worte ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den gesamten Film und spiegeln Jiros unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Träume wider. Doch Miyazaki untergräbt diese Romantik immer wieder mit einem feinen, bittersüßen Realismus.
Ein wiederkehrendes Motiv ist das Große Kanto-Erdbeben von 1923, das mit verstörender Intensität dargestellt wird. Die wackelnde Erde, das Geräusch des Feuers, das durch die Straßen rollt, und die panischen Menschenmassen sind ein Mahnmal für die Zerbrechlichkeit des Lebens. Es ist eine Anspielung auf die realen Katastrophen, die Japan heimgesucht haben, und ein symbolischer Moment, der zeigt, wie Träume und Tragödien oft Hand in Hand gehen.
Musik und Klang als emotionale Verstärker
Joe Hisaishis Filmmusik in Wie der Wind sich hebt ist eine seiner intimsten und bewegendsten Arbeiten. Die melancholischen Klavierstücke und die sanften Orchesterarrangements unterstreichen die bittersüße Stimmung des Films perfekt. Besonders herausragend ist das zentrale Musikstück, das Jiros Träume und Nahokos Krankheit gleichermaßen einfängt – eine wunderschöne, aber fragile Melodie, die lange im Gedächtnis bleibt.
Das Sounddesign ist ebenfalls meisterhaft. Die Geräusche der Flugzeuge – teilweise von Menschen mit ihren Stimmen nachgeahmt – verleihen dem Film eine ungewöhnliche, fast surreale Qualität, die an Miyazakis Liebe zum Handwerk erinnert.
Themen und Botschaften
Während Miyazakis Filme immer von einer gewissen Ökologie und Pazifismus durchzogen sind, ist Wie der Wind sich hebt sein persönlichstes Werk. Es ist ein Film über die Ambivalenz von Schönheit: über die Tatsache, dass selbst die edelsten Träume in einer unvollkommenen Welt nicht frei von Konsequenzen sind.
Es gibt keine eindeutigen Antworten, keine klaren Schurken. Stattdessen zeigt der Film, wie Träume und Verantwortung miteinander ringen, und überlässt es dem Zuschauer, diese Spannung auszuhalten. Das macht Wie der Wind sich hebt zu einem Werk, das weit über seine Laufzeit hinaus nachhallt.
Vergleich mit anderen Miyazaki-Filmen
Im Vergleich zu Chihiros Reise ins Zauberland (2001) oder Prinzessin Mononoke (1997) fühlt sich Wie der Wind sich hebt fast wie ein Anti-Miyazaki-Film an. Es gibt keine phantastischen Elemente, keine übernatürlichen Figuren, keine simplen Dualitäten von Gut und Böse. Stattdessen ist es ein zutiefst menschliches Werk, das eher mit den Filmen von Akira Kurosawa oder Yasujiro Ozu verwandt ist.
Das Einzige, was Wie der Wind sich hebt mit Miyazakis anderen Filmen verbindet, ist die unerschütterliche Ehrfurcht vor der Schöpfung. Ob es nun um Flugzeuge, Landschaften oder zwischenmenschliche Beziehungen geht – Miyazakis Liebe zu den Details, zum Leben selbst, durchdringt jede Szene.
Ein würdiger Abschied
Wenn Wie der Wind sich hebt wirklich Miyazakis Abschiedsfilm gewesen wäre – wie er ursprünglich ankündigte –, dann wäre es ein perfekter Schlusspunkt für eine außergewöhnliche Karriere gewesen. Es ist ein Film, der nicht die Jugend feiert, sondern das Reifen – der die Freude an Träumen mit der Verantwortung des Erwachsenseins vereint.
Es ist schwer, Wie der Wind sich hebt nicht als einen persönlichen Abschiedsbrief zu lesen – von Miyazaki an die Kunst des Filmemachens, an die Fans und an die Träume, die uns alle antreiben.
Für dich als Zuschauer bleibt die Erkenntnis, dass der Wind sich erhebt und wir – trotz allem – versuchen müssen zu leben. Ein melancholisches, ehrliches und zutiefst menschliches Meisterwerk.