“Der Junge und der Reiher”: Hayao Miyazakis überwältigendes Meisterwerk über Verlust, Fantasie und den Sinn des Lebens
Mit Der Junge und der Reiher (Kimitachi wa Do Ikiruka?, 2023) liefert Hayao Miyazaki ein Spätwerk ab, das sich wie die Quintessenz seines Schaffens anfühlt – ein Film, der alles, was ihn als Filmemacher ausmacht, in einer atemberaubenden Erzählung zusammenführt. Es ist ein tiefgründiges, visuell überwältigendes Werk, das sich nicht nur als fantasievolles Abenteuer präsentiert, sondern auch als eine meditative Reflexion über die großen Fragen des Lebens: Tod, Verlust, die Macht der Vorstellungskraft und die Suche nach einem Platz in einer verwirrenden, oft grausamen Welt.
Nach einer jahrzehntelangen Karriere, in der er uns Meisterwerke wie Prinzessin Mononoke (1997), Chihiros Reise ins Zauberland (2001) und Wie der Wind sich hebt (2013) schenkte, stellt Miyazaki mit Der Junge und der Reiher vielleicht seinen anspruchsvollsten Film vor. Es ist ein Werk, das sich nicht in einfache Kategorien einordnen lässt – weder ein reiner Kinderfilm noch eine durchgehend erwachsene Parabel, sondern ein schwebender, traumartiger Hybrid, der wie ein direktes Gespräch mit dir als Zuschauer wirkt.
Eine Reise durch die Welt der Fantasie – und des Verlusts
Die Geschichte beginnt in den 1940er-Jahren während des Zweiten Weltkriegs, in einer Welt, die von Zerstörung und Verlust geprägt ist. Der zwölfjährige Mahito, gespielt von Soma Santoki im japanischen Original, verliert seine Mutter bei einem Feuer. Zusammen mit seinem Vater zieht er aufs Land, wo sein Vater die Schwester seiner verstorbenen Frau heiratet – eine Entscheidung, die Mahito nur schwer akzeptieren kann.
Doch das Drama der realen Welt weicht schnell einer Reise in die Fantasie, als Mahito einem mysteriösen Graureiher begegnet, der ihn in eine andere Welt lockt. Was folgt, ist eine surreale Odyssee durch ein Reich, das an Lewis Carrolls Alice im Wunderland erinnert, gemischt mit Miyazakis eigener Vision von einer lebendigen, oft bedrohlichen Parallelwelt.
Die Handlung entfaltet sich in einem losen, fast episodischen Stil, wie es auch bei Chihiros Reise ins Zauberland der Fall war. Doch während Chihiro ihre Reise antrat, um Mut und Eigenständigkeit zu finden, ist Mahitos Weg stärker von existenziellen Fragen geprägt: Warum leben wir? Warum sterben wir? Und wie können wir mit Verlust umgehen?
Figuren voller Tiefe und Geheimnis
Mahito ist ein faszinierender Protagonist, weil er sich so authentisch wie ein echter Junge anfühlt. Seine Trauer, seine Wut und seine Verwirrung über die Veränderungen in seinem Leben machen ihn sofort nachvollziehbar. Aber Miyazakis Genie zeigt sich darin, wie Mahitos innere Reise durch die fantastische Welt gespiegelt wird, die er betritt.
Der titelgebende Reiher – ein unvergessliches, widersprüchliches Wesen, das zwischen Bedrohung und Humor oszilliert – ist eine der faszinierendsten Figuren, die Miyazaki je geschaffen hat. Seine kryptischen Aussagen und seine wechselnde Natur erinnern an die mysteriösen Nebenfiguren in Das Schloss im Himmel (1986) oder Nausicaä aus dem Tal der Winde (1984).
Neben Mahito und dem Reiher gibt es eine Reihe weiterer Figuren, die das Ensemble bevölkern: Von Mahitos mysteriöser neuen Stiefmutter bis zu einer Gruppe bizarrer, vogelähnlicher Kreaturen, die an die surrealen Wesen aus Mein Nachbar Totoro (1988) erinnern, bleibt jeder Charakter ein Rätsel, das du selbst entschlüsseln musst.
Visuelle Perfektion und ungebändigte Kreativität
Der Junge und der Reiher ist vielleicht der schönste Film, den Miyazaki je gemacht hat – und das will etwas heißen. Jede Einstellung ist ein Kunstwerk, jedes Detail sorgfältig durchdacht. Die Welt, die Mahito erkundet, ist nicht nur wunderschön, sondern auch zutiefst beunruhigend. Miyazakis Fähigkeit, Schönheit und Bedrohung nebeneinander existieren zu lassen, erinnert an die düsteren Märchenwelten eines Guillermo del Toro, während die fließenden Übergänge zwischen Realität und Fantasie an Werke wie Pan’s Labyrinth (2006) denken lassen.
Besonders beeindruckend ist die Gestaltung der Parallelwelt, in die Mahito reist. Hier scheint die Fantasie keine Grenzen zu kennen: Von imposanten, bröckelnden Türmen, die an das titelgebende Schloss in Das Schloss im Himmel erinnern, bis hin zu flirrenden Farben und schattenhaften Kreaturen, die den Ozean von Träumen und Albträumen bevölkern. Miyazakis Welt fühlt sich lebendig an, als könnte man sie greifen – und gleichzeitig so unwirklich wie ein Traum, den man beim Erwachen nur schemenhaft erinnert.
Musik, die die Seele berührt
Joe Hisaishi liefert mit der Filmmusik zu Der Junge und der Reiher erneut eine Partitur ab, die dich tief im Innersten trifft. Während seine früheren Werke oft zwischen spielerischer Leichtigkeit (Ponyo) und epischem Bombast (Prinzessin Mononoke) schwankten, ist die Musik hier introspektiver, melancholischer. Die sanften Klavierklänge und die kraftvollen Streicher verleihen dem Film eine emotionale Tiefe, die die Dialoge oft nicht aussprechen.
Ein besonders bemerkenswerter Moment ist das Hauptthema, das während einer Szene gespielt wird, in der Mahito erstmals die fremde Welt betritt. Es ist ein Moment, der sowohl Staunen als auch Furcht auslöst – ein perfektes Zusammenspiel von Bild und Ton, das dich vollständig in die Welt des Films eintauchen lässt.
Existenzielle Fragen in einem Märchenkleid
Während viele von Miyazakis Filmen Themen wie Umweltzerstörung (Prinzessin Mononoke) oder menschliche Gier (Chihiros Reise ins Zauberland) thematisieren, ist Der Junge und der Reiher vielleicht sein philosophischster Film. Es ist ein Film über Verlust und die Frage, wie wir mit dem Tod umgehen.
Die Parallelwelt, die Mahito erkundet, könnte man als eine metaphorische Darstellung seines inneren Trauerprozesses interpretieren. Die fremden Kreaturen, die verschlungenen Wege und die dunklen Geheimnisse dieser Welt scheinen allesamt Aspekte seiner Trauer und seiner Suche nach Antworten zu repräsentieren.
Doch Miyazaki gibt uns keine klaren Antworten – und das ist einer der Gründe, warum der Film so faszinierend ist. Stattdessen lädt er dich ein, selbst über die Bedeutung der Geschichte nachzudenken, über das, was Mahito erlebt, und wie es sich auf dein eigenes Leben übertragen lässt.
Ein Vergleich mit Miyazakis früheren Filmen
Der Junge und der Reiher fühlt sich wie die Essenz von Miyazakis gesamtem Werk an – als hätte er all die Themen, Motive und Bilder, die ihn über Jahrzehnte begleitet haben, in einem einzigen Film zusammengeführt. Es gibt Anklänge an Chihiros Reise ins Zauberland in der surrealen Parallelwelt, an Das wandelnde Schloss in der Ambivalenz der Figuren und an Wie der Wind sich hebt in der Beschäftigung mit Tod und Vergänglichkeit.
Doch gleichzeitig steht Der Junge und der Reiher völlig für sich. Es ist ein Film, der nicht nur als Fortsetzung seines bisherigen Werks funktioniert, sondern auch als eine neue, mutige Richtung – ein Film, der beweist, dass Miyazaki selbst im hohen Alter nichts von seiner kreativen Kraft eingebüßt hat.
Ein Meisterwerk für die Ewigkeit
Mit Der Junge und der Reiher hat Hayao Miyazaki nicht nur einen Film geschaffen, sondern ein monumentales Werk, das in seiner Tiefe, Schönheit und Emotionalität unerreicht ist. Es ist kein einfacher Film, keine leichte Unterhaltung. Es ist ein Film, der dich fordert, der dich zum Nachdenken bringt und der dich vielleicht sogar verändert.
Am Ende, wenn die Credits rollen, bleibt ein Gefühl der Dankbarkeit – dafür, dass Miyazaki noch einmal in die Traumfabrik zurückgekehrt ist, um uns dieses Meisterwerk zu schenken. Wenn dies tatsächlich sein letzter Film sein sollte, dann ist es ein Abschied, der so großartig und unvergesslich ist wie der Wind, der durch die Fantasiewelten weht, die er für uns geschaffen hat.
Der Junge und der Reiher ist ein zeitloses Meisterwerk, das die Grenzen des Mediums auslotet und erneut beweist, warum Hayao Miyazaki als einer der größten Filmemacher unserer Zeit gilt.